Ich war heute bei einer spannenden Pressekonferenz. Die Leiter*innen einiger der größten Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen wenden sich an die Öffentlichkeit, um den BDS-Beschluss des Bundestages zu kritisieren.
Aus unterschiedlichsten Perspektiven und selbst überwiegend in klarer und betonter Distanz zur BDS-Bewegung erleben sie alle, wie diese politische Regulierung des politisch Diskutierbaren (schließlich zielt der Beschluss und seine Praxis v.a. auf Verbote von Räumen und öffentlichen Geldern, wenn auch nur irgendeine lose Verbindung zu BDS besteht) die Arbeit von Kulturinstitutionen unterminiert und kontroverse Begegnungen und Debatten verhindert.
Boykcott mit Boykott beantworten – das kann nicht die Lösung sein – so u.a. Hanno Loewy (Direktor des jüdischen Museums Hohenems), wenn die Situation doch so verfahren, komplex und widersprüchlich ist. Denn die Ausgeschlossenen sind bei beidem teilweise die gleichen: kritische Stimmen beider Seiten, Akteure des Dialogs. Das ist eine klare Kritik an BDS wie dem BDS-Bann. Denn kritische Israelis und kritische Palästinenser*innen, die ihrem jeweiligen Mainstream widersprechen, stehen per Kontaktschuld oder wegen ihrer Meinungen im Zentrum der Problematisierungen, die dieser Beschluss bewirkt.
Stefanie Schüler-Springorum wies auf die verheerende Wirkung der Arbeitsdefinition Antisemitismus als einer Grundlage des BDS-Beschlusses hin, die eben nur eine Arbeitsdefinition ist, welche auch durch ihren Israelfokus wichtige und bedeutsamen Aspekte des verschwörungstheoretischen Antisemitismus der Gegenwart vernachlässige. Der Antisemitismusbegriff sei auch in der Wissenschaft so umstritten (bis hin zur Forderung seiner Abschaffung durch kontextsensible Konkretionen), dass eine vielstimmige und offene Debatte dringend nötig sei. Die aktuelle Lage befördere stattdessen die Lahmlegung.
Die Kritik des BDS-Beschlusses ist der Anlass, doch das Anliegen ist breiter: es geht um die Verteidigung der Wissenschafts- und Kunstfreiheit, den Erhalt kontroverser Diskussionen. Das heißt auch andere werden kritisiert: immer wieder BDS-Bewegung, die insbesondere in ihrem Wissenschafts- und Kulturboykott ebenso diese Freiheiten angreift, oder, beispielsweise von Barbara Stollberg-Rilinger (Rektorin des Wissenschaftskollegs Berlin) Safe Spaces, die Studierenden vor ihnen unangenehmen Meinungen schützen sollen. Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung) erinnerte in diesem Zusammenhang an das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot der politischen Bildung.
Man will also Räume öffnen, so der Generalintendant des Humboldtforums Hartmut Dorgerloh, frei von Selbstzensur, gegen Antisemitismus, Rassismus, für eine Debatte über Erinnerungskultur, für Weltoffenheit und für das Aushalten auch des Unangenehmen, das solch offene Debatten mit sich bringen müssen. Die Veranstaltung soll entsprechend auch die Eröffnung eines Prozesses sein.
Dieser ist dringen nötig. Hoffentlich ist er nur begonnen.
Hier geht’s zum Statement und der Liste der Unterzeichner*innen der Initiative: https://drive.google.com/file/d/14WBPlOswuU8Vm2pQm1cteCLrDnPs7FZ5/view
Meine Hintergundberichte und Erklärversuche zur Debatte:
Ullrich, Peter. 2020. „Ist der Aufruf zu einem Gespräch über Antisemitismus selbst antisemitisch?“ Berliner Zeitung. 15. Dezember 2020. https://www.berliner-zeitung.de/open-source/bds-initiative-gg53-weltoffenheit-israelboykott-ist-nicht-gleich-judenboykott-li.126146.
Ullrich, Peter. 2020. „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit – Boykott mit Boykott beantworten?“ medico international. 15. Dezember 2020. https://www.medico.de/blog/boykott-mit-boykott-beantworten-18053.
Ullrich, Peter. 2020. „Über den Boykott der Boykotteure“. nd, 17. Dezember 2020. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145903.nahostkonflikt-und-antisemitismus-ueber-den-boykott-der-boykotteure.html.
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